Ja, darüber habe ich ein Buch geschrieben und so sieht es aus. Spricht es dich auch an? Mir gefällt es. Ich fange jetzt auch einfach mal ganz von hinten an zu erzählen. Dieses ganz hinten ist nähmlich für mich die schönste Zeit meines Lebens, weil ich jetzt schon fast zwanzig Jahre Zeit habe für alles schöne. Allerdings habe ich im früheren Leben auch schon immer weit hinten gestanden, „und musste dafür auch noch hart Arbeiten“.
Ja, der kleine auf der Titelseite des Buches das bin ich. So saß ich in unserem Garten in Klettendorf in Schlesien als ich wohl fünf Jahre alt war. Der große, das bin ich auch. Aufgenommen im Frühjahr 2011 vor unserem Haus im Kalletal. Beide zusammen sitzen wir auf der Insel Senja in Norwegen. Wir besuchen dieses schöne Land seit achtundzwanzig Jahren und können es nicht mehr lassen. Gleich bei unserem ersten Besuch im Jahr 1983 erkrankten wir unheilbar an einem Lappland-Virus. Eine unheilbare Krankheit welche sich nur in der Finnmark in Norwegen lindern läßt. Aber jetzt habe ich genug Blödsinn erzählt und komme zum Ernst des Lebens.
Ich habe mich selbst gefragt, wie ausgerechnet ich, dazu kam, ein Buch zu schreiben. Ich habe in meinem ganzen Leben nur fünf Jahre die Volksschule besucht. In diesen fünf Jahren hatte ich in der Dicktatstunde immer die meisten Fehler aus der ganzen Klasse. In meinem späteren Berufsleben, war ich im Aussendienst, als Fachberater für einen Großhandel tätig. Das Schreiben schob ich da ganz weit von mir und in dem Betrieb hatte man Verständnis dafür, und ich ließ schreiben.
Ich hatte Erfolg, und richtig Freude an meinem Job. Dabei merkte ich erst sehr spät, dass ich durch wenige Kunden welche oft mit ihrem Reichtum pralten, langsam krank wurde. Es kam soweit dass ich meine geliebte Arbeit ein paar Jahre zu früh an den Nagel hängen musste. Wirtschaftlich ging es uns gut, aber die Seele wollte nicht gesunden. Als 32ger Jahrgang, bin ich entweder fünf Jahre zu früh oder zu spät und an der falschen Stelle geboren. Um aus meiner Situation das beste zu machen, hatte ich meine grausame Vergangenheit immer nur verdrängt und wurde dabei krank.
Im Jahr 2008 begann ich dann intensiv mein Leben zu beschreiben, dachte dabei aber nur an die Befreiung meiner Seele. Eine gute Bekannte die durch ihre Familie in der Schreiberei vorbelastet ist, bekam bei einem Besuch ein paar von meinen Manuskriptseiten in die Hände, und ich wurde verdonnert, weiter zu machen.
Nun ja, das war im Jahr 2009. Nach dem mein selbst geschriebenes Buch dann im Februar 2011 über den Engelsdorfer Verlag veröffentlicht wurde, und ich es auch selbst gelesen habe, warte ich auf die Leser welche das Buch eines völlig Unbekannten überhaupt in die Hand nehmen. Gefragt ist eine Autobiografie sicher nur wenn der Autor prominent, oder eine andere hochgestellte Persöhnlichkeit ist. Allerdings schreiben diese Menschen in der Regel nicht selbst sondern lassen schreiben. So eine Autobiografie zeigt dann oft nur die Erfolgsspirale des prominenten Menschen auf. Sicherlich wird damit nicht gelogen, aber gibt es denn wirklich ein Leben ohne Unzulänglichkeiten?
Mein Buch: „Fast ein ganzes Menschenleben“ „auf holprigen Wegen vergangener acht Jahrzehnte“ ist auch eine Autobiografie. Diese ist aber von mir selbst geschrieben, und beinhaltet auch ausnahmslos all meine Unzulänglichkeiten. Dieses Buch wirst du lesen, wie einen spannenden Roman über das Leben an sich.
Es wird verlegt über den Engelsdorfer Verlag Leipzig
unter der ISBN 978-3-86268-205-8 Es ist lieferbar über den Buchhandel, über Amazon, oder über den Verlag,
Eine kleine Leseprobe aus meinem Buch.
Seite 9 u. 10 – Sommer 1932
In Klettendorf, einem großen Ort am Südrand von Breslau, herschte reges Leben. Die Erntezeit hatte begonnen, und unser Dorf bestand zu einem großen Teil aus einem Landgut (dem Dominium).
Fast über die gesamte Südseite des Dorfes grenzte eine bald zwei Meter hohe Mauer das Gelände vom eigentlichen Ort ab. Die Knechte und Mägde, welche die Hof- und Stallarbeit auf diesem Dominium verrichteten, wohnten mit ihren Familien hinter dieser Mauer auf dem Gutsgelände.
Die dafür errichteten Gesindeunterkünfte bildeten eine eigene kleine Siedlung. Sie bestand aus eingeschossigen kleinen Häusern mit integrierten kleinen Stallungen. Obwohl die Familien geschlossen noch fast wie Leibeigene auf dem Dominium arbeiteten, hielten sie ihr eigenes Federfieh und zogen Schlachttiere für den Eigenverbrauch auf.
Noch weiter außerhalb des Dorfes, hinter dem Dominium, war die Zuckerfabrik angesiedelt. So konnten die geernteten Rüben ohne große Umwege zu Zucker verarbeitet werden.
Direkt in der Ortsmitte über dem Dorfplatz stand ein größeres Wohnhaus, welches meine Großeltern erbaut hatten. An einem fünfzehn Jahre alten Gebäudeteil, der zur Kirchstraße zählte, wurde im letzten Jahr ein gleich großer Bauteil zur Schulstraße hin fertig gestellt.
Fünf Wohnungen im Haus waren vermietet, und die beiden größten Wohnungen im ersten und zweiten Obergeschoß wurden von meiner Großmutter mit ihren fünf Kindern bewohnt. Ihre vier Töchter und ein Sohn waren im Alter von dreizehn bis neunzehn Jahren. Einen Mann gab es in dieser Großfamilie nicht mehr.
Mein Großvater betrieb nämlich einen Kohlenhandel und verunglückte tödlich mit einem Pferdegespann.
Helene, die zweite Tochter im Haus, war gerade achtzehn Jahre alt, als sie und auch ihre Mutter erkannten, dass sich Nachwuchs angemeldet hat.
An der gegenüberliegenden Straßenecke von Großmutters Haus stand das „Gölich-Haus“. Es gehörte dem Schlachter-Meister Gölich, der auf einem Grundstück hinter dem „Rönsche-Haus“, mit seinem Metzgergesellen eine Schlachterei betrieb. Nach dem Namen Rönisch, den meine Großmutter trug, benannte sich ihr Haus auf gut schlesisch, das „Rönsche-Haus“.
Durch die täglich sichtbare Nähe zwischen der zweitältesten „Rönsche-Tochter“ und dem jungen Metzgergesellen ergaben sich wohl Berührungspunkte, die im pillenlosen Zeitalter nicht erwünschte Folgen nach sich zogen.
Nun war ich also unterwegs. Und als das im Rönsche-Haus einmal bekannt war, sollte ich das Wunschkind der ganzen Familie Rönisch werden. Meine Mutter entschied sich dazu, ohne meinem leiblichen Vater auszukommen. Sie wollte keinen Mann heiraten „der ihr so etwas angetan hatte“. Und im Rönsche-Haus konnte man sich das leisten, sobald meine Großmutter das auch so wollte. Mich hat allerdings in dieser Sache keiner gefragt. Die Endscheidung stand fest, bevor ich mich zu Wort melden konnte, und so war ich nach meiner Geburt, am 6. August 1932 der Rönsche Harry.
Kriegserlebniss in meinem zwölften Lebensjahr. -Seite 20 bis 27-
Von „Adolfs“ Krieg hatte ich bis jetzt nicht allzu viel mitbekommen. Außer, dass der Nachthimmel sich oft in ein riesiges Feuerwerk verwandelte. Durch die Nähe zur Innenstadt Breslau konnte ich zwar oft beobachten, wie die Luftangriffe über Breslau geflogen wurden. Eine echte Gefahr habe ich dabei nicht erkannt. Der Nachthimmel war bei diesen Angriffen zum einen durch die Suchscheinwerfer der deutschen Luftabwehr und zum anderen durch die abgeworfenen Lichterketten der Angriffsflugzeuge hell erleuchtet. Die zerstörenden Luftminen und Brandbomben waren auch nicht für unser Dorf bestimmt. So war es für mich bis dahin fast ein schönes Schauspiel.
Doch dann ganz plötzlich erreichte der Krieg auch mich. Ich war am Dorfrand, um eine Weidenrute zu schneiden, als ich einen Tiefflieger hörte und sah, wie er auf mich zukam. Instinktiv warf ich mich in den Seitengraben, als auch schon unmittelbar neben mir die MG-Salven ins Gras schlugen. Dann war der Spuk schon wieder vorbei.
Am gleichen Tag wurde Breslau zur Festung erklärt und wir, die Zivilbevölkerung der Stadt und der näheren Umgebung, mussten unsere Wohnungen verlassen. Wir aus dem Rönsche-Haus zogen mit einem kleinen Leiterwagen, den wir mit dem Nötigsten an Kleidung und Decken bepackt hatten, ziehend und schiebend bis nach Neurode im Eulengebirge. Bis zu diesem Moment hatte man jedes Unbehagen von mir ferngehalten. Aber jetzt wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass mein behütetes Leben vorbei war.
Die Straßen, auf denen wir mit unserem Leiterwagen unterwegs waren um eine Bleibe zu suchen, waren in einem schlimmen Zustand. Die Oberfläche war von Panzerfahrzeugen zermahlt. Die Brücken über die kleinsten Wasserläufe waren zerstört. Oftmals war unsere kleine Habe zu schwer, um den Leiterwagen damit durch einen Graben zu hieven. Dann hieß es immer wieder, abladen und alles einzeln auf die andere Seite bringen. Es war wohl ein Wunder, dass wir trotzdem Neurode erreichten, ohne mit den Frontlinien in direkte Berührung zu kommen. Aber das Deutsche Militär organisierte sich in der Stadt Breslau, und alle anderen Militärkräfte formierten sich um diese Stadt einzukreisen.
In dem ruhig gelegenen Neurode habe ich von einem Kriegsgeschehen wiederum nichts wahrgenommen. Sämtliche Militärkräfte waren wohl in und um Breslau zusammen gezogen. Die Fluggeschwader die man von Neurode aus nur am Himmel hörte bombardierten nur noch die einge-schlossene Stadt Breslau.
In Neurode hatte man uns in einer kleinen Kammer untergebracht. Flüchtlinge gab es ja genug und viele mussten auch in Ställen oder Zelten leben. So machten wir uns nach der deutschen Kapitulation im Mai 1945 wieder auf den Weg zurück nach Klettendorf.
Ob das Rönsche-Haus noch steht, wussten wir nicht. Als wir aber dann das Haus wieder erreichten, hatten wir ein großes Glück im Unglück. Das russische Militär besetzte unser Haus zum gleichen Zeitpunkt für seinen Generalstab. Wir durften aber auch darin wohnen bleiben, denn sie brauchten ja auch Dienstpersonal. In diesem Moment hätte uns nichts Besseres passieren können, denn nun standen wir in der sehr kritischen Zeit unter dem Schutz der russischen Kommandantur und wohnten weiterhin in einer Wohnung im zweiten Obergeschoß unseres Hauses.
Der Südteil von Breslau, nicht weit von unserem Ort entfernt, war bis zum Breslauer Rathaus durch die abgefeuerten Luftmienen völlig zerstört. Allerdings waren nur selten die Hauswände eingestürzt. Es war ein gespenstischer Anblick. An den noch stehenden Wänden hingen die Kachelöfen bis in die Obergeschosse. Eine Unterkunft, auch für das Militär zu finden, war da so gut wie unmöglich.
Zu diesem Zeitpunkt waren die größeren Straßen in Breslau, wie zum Beispiel die „Straße der SA“, die vom Südpark bis zum Rathaus verlief von Trümmern freigeräumt. Aber die Seitenstraßen waren nicht nur von Trümmern übersät. Überall sah man noch verwesende Leichen liegen. Und die Ratten die auf der Straße und in den Ruinen herum liefen zeigten keinerlei Scheu vor uns Lebenden. Den bestialischen Gestank der sich überall ausbreitete werde ich nicht vergessen.
Jetzt begann für mich wirklich ein anderes Zeitalter. Bis vor kurzem war ich nur der umhätschelte Prinz, und nun musste ich mit meinen zwölf Lebensjahren erwachsen sein. Dass ich bis jetzt ohne erwachsene Männer im Haus aufgewachsen bin habe ich nicht unbedingt als störend empfunden. Aber jetzt gab es überhaupt keine deutschen Männer mehr. Weder im Haus noch auf der Straße. Auf der Straße gab es andererseits sehr viele Männer, aber die steckten in Militäruniformen und kamen aus Russland und aus Polen. Ich glaube, diese Männer sind auch nicht freiwillig in unse-ren Ort gekommen, und sie wären auch lieber zuhause geblieben. Aber jetzt hatten sie den Krieg gewonnen und waren hier. Allein ohne Familien, ohne Frauen, die meisten nach jahrelangem Fronteinsatz gegen die bösen Deutschen.
Die deutschen Frauen, welche nicht vor Kriegsende in den Westen geflüchtet waren, taten gut daran, in den Häusern zu bleiben und nicht auf die Straße zu gehen. Die Gefahr, in einer unübersichtlichen Ecke vergewaltigt zu werden, war mehr als groß.
Durch unser Zusammenleben mit den Soldaten der russischen Kommandantur, konnte ich miterleben, dass man gegen die Vergewaltiger etwas tat, und tatsächlich dagegen vorging. Auch wenn sie aus den eigenen Reihen kamen, wurden sie bestraft und auch eingesperrt. Das Einsperren war ohne die entsprechenden Unterkünfte gar nicht so einfach. Und so dienten ein paar intakte Garagen als Gefängnis.
In eine solche Garage musste dann auch ein Soldat aus der Kommandan-tur umziehen. Er war eigentlich ein sehr netter Typ, und so kam er auch nach ein paar Tagen wieder zurück in die Kommandantur. Dort versuchte er uns immer wieder zu erklären, dass er nichts Böses getan hätte, es sei doch eine ehrliche Liebschaft zwischen einer jungen Frau und ihm entstanden. Leider passten aber auch solche zwischenmenschlichen Beziehungen nicht in die momentane Zeit. Der Krieg mit Waffen und Spreng-stoff war zwar zu Ende. Der Kriegszustand für das gesamte Volk, mit einem unvorstellbaren Kampf ums reine Überleben, hatte gerade erst begonnen.
Alles, was ein Mensch zum Überleben brauchte, war auf einem halbwegs normalen Weg nicht mehr zu haben, auch nicht für die russische Komandantur. Die Vorräte in unserem Haus waren schnell aufgebraucht, und so verging jeder Tag mit dem Organisieren von irgendetwas Essbarem.
Die russischen und polnischen Soldaten mochten sich nicht besonders. Sie rangelten sich als Besatzungsmacht um ihre Vormachtstellung, und ein kleiner Junge, der mehr oder weniger unauffällig herumläuft, wurde am wenigsten beachtet. Mit dieser Unscheinbarkeit lernte ich schnell umzugehen.
Durch die nicht vorhandene Ordnung erlag jegliche Geschäftstätigkeit soweit man sehen und hören konnte. Der deutschen Bevölkerung, die ja nur aus Frauen und Kindern bestand, war nichts erlaubt. Die polnischen Familien, welche aus ihrer angestammten Heimat vertrieben und in den deutschen Ostgebieten angesiedelt werden sollten, hatten ihre neue Heimat noch nicht erreicht. So gab es auch keine Tätigkeit auf dem gesamten Dominium, einschließlich Zuckerfabrik.
Die meisten Tiere, zumindest die, welche in den Stallungen gefüttert werden mussten, waren wohl schon geschlachtet, um das Militär zu „füttern“.
Die gesamten Anlagen mit dem Rest des toten und lebenden Inventars wurden vom polnischen Militär bewacht und durften nicht betreten werden.
Selbst für die Soldaten der russischen Kommandantur war es nicht einfach, genügend Lebensmittel herbei zu schaffen. Meine Muttel und ihre Töchter durften das Hausgrundstück nicht verlassen. Nicht nur, weil es gefährlich für sie war, nein es war auch nicht erlaubt. Nur wir Kinder konnten uns einigermaßen frei bewegen. Um zu überleben, hatten wir einen strengen Lehrmeister. Den Hunger. Dieser Hunger war stark. Und wenn ich damit einen Weg fand, an etwas Essbares zu kommen, fragte ich nicht nach dem Recht.
In meiner Schulzeit vor dem Kriegsende trieben wir Kinder uns nicht nur in unseren umliegenden Büschen und Wiesen herum. Die Kinder der Fabrik- und Gutsverwalter waren ja unsere Freunde. Spielen durften wir überall, auch in den Betriebsanlagen. So kannte ich jeden Winkel in unserer Umgebung, und das sollte mir jetzt Vorteile bringen.
Mit meinem Freund Wolfgang, (er war kleiner als ich und fiel dadurch weniger auf) meistens aber im Alleingang, ging ich auf die Suche nach verwertbaren Dingen. Durch versteckte Schlupflöcher gelang es mir immer wieder, in verlassene Hallen und Räume einzudringen. Leider fand ich dabei kaum etwas Essbares, außer Zucker.
Den Wert des Zuckers erkannte ich erst, als ich mit vollen Taschen einem Russen in die Arme lief. Der wollte den Zucker und gab mir Wurst und Brot. Und der Russe wollte viel Zucker und er wollte mit Wurst und Brot bezahlen. Sicherlich hätte er mir den Zucker einfach abnehmen können, aber damit hätte er keinen Nachschub bekommen. Ganz sicher wusste er, dass der Zucker für ihn nur über mich erreichbar war. Die Fabrik wurde Tag und Nacht von polnischem Militär bewacht, und ein Erwachsener kam nicht durch meine Schlupflöcher.
Jetzt hatte ich eine Geschäftsgrundlage. Aus einem Leinentuch fertigte meine Muttel mir einen breiten doppelten Leibgürtel. Mit ein paar Nähten unterteilte sie den Gürtel in mehrere offene Rippen, die ich dann gut mit Zucker befüllen konnte. Mit dem gefüllten Gürtel unter der Jacke kam ich noch zurück durch meine Schlupflöcher, und konnte auch damit über die Straße laufen, ohne aufzufallen. So wurde ich zum Rohstofflieferanten.
Die russischen Soldaten hatten einen enormen Bedarf an Wodka. Und ein paar Geschäftstüchtige aus ihren Reihen, die ja nun als Soldaten nicht mehr ausgefüllt waren, errichteten im ganzen Ort verteilt ein paar Thekenräume. Den benötigten Wodka brannten sie selbst und dafür brauchten sie den Zucker.
Durch meine Lieferungen kam ich immer wieder mit den Soldaten vor der Theke in Berührung. Sie tranken ihren Wodka aus großen Wassergläsern und aßen Kilbassa (eine trockene harte Dauerwurst) mit Weißbrot dazu. Sie machten sich einen Spaß daraus, mir von ihrem Schnaps anzubieten, gaben mir aber auch von der Wurst und dem Brot. Wenn ich an dem Wodka nur leckte, reichte mein Hustenanfall für ihr Gelächter und ich durfte gehen. Ich musste ja dann immer noch sehen, wie ich mit den verdienten Lebensmitteln ins Rönsche-Haus kam. Übrigens, als die Soldaten der Kommandantur das erste Mal unsere kleinen Schnapsgläschen sahen, konnten sie nicht mehr aufhören zu lachen. Aus so etwas konnten die nicht trinken. Sie benutzten nur derbe Wassergläser.
Die Besuche in der Zuckerfabrik gehörten schon zum Alltag, und nach meiner ersten Erkundungstour war mein Freund Wolfgang immer mit von der Partie. Es war bald ein Ablauf wie im Arbeitsleben eines Erwachsenen. Aber was lange währt ist nicht immer gut.
Bei einem solchen routinemäßigem „Geschäftsgang“ mit meinem Freund, wurden wir von der polnischen Militärwache aufgegriffen. Wir wurden einzeln in jeweils einen Zuckersack verpackt und in einem Keller „gelagert“. Ich weiß nicht mehr, wann wir wieder frei kamen, aber es war wohl der nächste Tag. In der Zwischenzeit kam immer wieder mal einer in den Kellerraum und versetzte den „Säcken“ ein paar derbe Schläge. Irgendwann gelang es uns, aus den „Säcken“ zu entkommen, und durch das Kellerfenster erreichten wir die Freiheit. (Heute glaube ich, das war so gewollt.) Jetzt kannte man uns ja, und mit meinen Beschützern in der russischen Kommandantur wollte man sich ja auch nicht über Gebühr anlegen.
Kurz nach dieser neuen Lebenserfahrung erkrankte ich wie sehr viele andere Menschen auch, an Typhus. Während dieser Krankheit ist meine Erinnerung für einige Wochen völlig verloren gegangen. Mein Muttel erzählte mir später über den Ablauf der Zeit: Danach bekam ich von heute auf morgen sehr starkes Fieber, welches dann wochenlang anhielt. In einem kleinen Fachwerkhaus, in dem man eigentlich nicht mehr wohnen konnte (wir Kinder nannten es immer Hexenhaus), war ich mit anderen schwer erkrankten Menschen untergebracht. Meine Muttel organisierte mit Hilfe der russischen Kommandantur eine Milchziege, und brachte mir jeden Tag die frische Ziegenmilch, welche sie mir mit einem Tuch einflößte.
Ich befand mich in so etwas wie einem Koma. Meine eigene Erinnerung setzt wieder ein, wie ich von Muttel gestützt im Bett sitze. Vor mir liegt ein Spiegel auf der Bettdecke, und Muttel kämmt mit einem feinen Kamm durch meine dichten blonden Haare. (Später, während meiner Gesundung, sollte ich dann diese Haare erst einmal restlos verlieren.) Das Spiegelglas war übersät mit winzig kleinen Punkten die hin und her krabbelten bis meine Muttel sie mit den Fingern zerdrückte. Mein Kopf war voller Läuse.
Nach diesem Entlausungs und Wiederbelebungsversuch wurde ich in einen kleinen Bollerwagen gepackt. Selbständig sitzen konnte ich nicht, und so wurde ich wie ein Säugling in Decken und Kissen gebettet ins Rönsche-Haus gebracht. Ins Haus musste ich getragen werden. Aber das aller Schlimmste war überstanden. Ich war wieder zu Hause. Um zu Kräften zu kommen, wurde ich mit allen verfügbaren Lebensmitteln gefüttert. Aus zerquetschtem Leinsamen wurde mit Maismehl eine Ersatzbutter gekocht. Die Soldaten der Kommandantur hatten eine größere Menge Maismehl organisiert. Und so konnte Muttel mit ihren Töchtern jede Menge Brot backen. Aber was ich auch zu essen bekam, das meiste konnte ich nicht bei mir behalten. Und so war es am Ende wieder die Ziegenmilch, die mich auf die Beine brachte. Es dauerte aber sehr lange, bis ich wieder allein aufstehen und laufen konnte.
Später, als ich es schon wieder allein schaffte, die Treppe ins zweite Stockwerk zu bewältigten, stand ich auch wieder auf der Straße mit anderen Kindern zusammen. Als diese plötzlich wegrannten, ich weiß nicht mehr warum, wollte ich aber hinterher. Meine Beine mussten so etwas aber erst wieder neu lernen. Bei dem Versuch, schnell loszurennen, fiel ich lang hin auf’s Gesicht. Meine Beine und Arme hatten noch nicht wieder die Kraft, das zu verhindern.
Im Kampf gegen das Alter:
Seite 303 bis 305 – Alter Mann und neue Technik
In der letzten Zeit sah ich in den Jagd- und Angelzeitschriften immer wieder Werbung für kleine GPS-Geräte. Ich wollte begreifen, wie solche Geräte, nicht größer als ein Handy, mich durch eine Wildnis führen können. Bei einem Besuch in einer neuen Globetrotter Filiale in Köln wollte ich mich aufklären lassen, begriff aber nur sehr wenig von dem Fachchinesisch des jungen Verkäufers.
Ich kaufte mir ein kleines Lehrbuch. Nach dem ich das studiert hatte, kaufte ich mir das einfachste Gerät, welches der Markt zu bieten hatte.
Dann fuhr ich wieder allein auf die Insel Senja und programmierte mir aus meiner topografischen Karte, den voraussichtlich einfachsten Weg zu einem Bergsee. Es war das Storelvvatn (großes Fluss-Wasser.) In meiner Karte war im Ufergelände auch eine Game eingezeichnet, die ich erreichen wollte.
Dass die Strecke, die mein GPS mich jetzt führen sollte, nicht ganz leicht zu bewältigen sein würde, konnte ich an Hand der Topo-Karte ersehen. Aber wenn ich in einer Game übernachten konnte, brauchte ich ja kein Zelt und anderes schweres Gepäck mitzunehmen, und dann müsste das gehen. Am Ende ging es ja dann auch aber wirklich nur mit äußerster Anstrengung.
Ich ging einen Hang an, den ich nicht richtig einschätzte, und der Aufstieg wurde immer schwieriger. Als ich dann etwa die letzten drei Meter unter dem Bergkamm erreicht hatte, bekam ich höllische Angst. Diese drei Meter stiegen fast senkrecht auf, und ich fand außer einem dünnen Ast, der von einer Kriechbirke herabhing, keinen festen Halt. Umdrehen erschien mir aber noch gefährlicher, als dieser Birke zu vertrauen. Vom Angstschweiß durchnässt, saß ich einige Zeit später auf dem Bergrücken und sah über-glücklich ins Tal.
Aber nicht nur das Tal, aus dem ich diesen Anstieg angegangen war, konnte ich übersehen, sondern in ein paar hundert Metern Entfernung auch meinen gesuchten Bergsee. Er befand sich in der gleichen Höhe, in der ich jetzt stand, aber leider nicht auf dem gleichen Bergrücken. Ein Wasserfall, der sich daraus ergoss, schoss in das dazwischen liegende Tal.
Ich stand also in der Höhe von meinem angestrebten Zielpunkt, musste aber noch einmal bis zum Fuße des Wasserfalles absteigen, um dann neben dem schäumendem Wasser wieder bergauf zu klettern. Meine Fähigkeit, ein Navi zu programmieren, ließ wohl noch sehr zu wünschen übrig.
Dann zweifelte ich an mir selbst. Den See hatte ich nun erreicht und konnte ihn einigermaßen übersehen. Dabei konnte ich schon in etwa erkennen, dass da, wo die Game stehen sollte, eher ein Sumpfgebiet zu finden ist.
Ich umrundete den See und suchte vor allen Dingen die Regionen mit Birkenbestand gründlich ab, ohne das Gesuchte zu finden. Aus meinem geplanten längeren Aufenthalt wurde nur ein kurzer Besuch. Am Abend war ich wieder auf dem Weg ins Tal, den ich nur mit einer anderen Route, auch in meinem GPS, gespeichert hatte.
Im Gegensatz zu meinem Auf-stieg, verlief dieser Weg in einem großen Bogen, in der Nähe des Flusslaufes, mit mäßigem Gefälle. Die Geländestruktur wechselte zwischen leicht abfallenden Felsplatten mit mäßigen Stufen, kleineren Sumpfflächen und Hochland-Birken. Ich kam mir vor wie auf einem Spaziergang. An einem tiefer liegenden See angelte ich noch etwas ohne jeglichen Erfolg und kam dann pünktlich zum Frühstück wieder an unserem „Mecky“ an. Mein GPS hatte nicht versagt, aber auf der topografischen Karte von Senja war die Game am falschen Platz eingezeichnet.
Im Fremdenverkehrsbüro in Finsnes trug ich diesen Vorfall vor, und die beiden Damen bemühten sich sofort um Aufklärung. Sie telefonierten beide mit verschiedenen Stellen, aber ohne Erfolg. Beide waren aber überzeugt, dass es am Storelvvatn eine Game gibt, und ich sollte ihnen meine Telefonnummer da lassen, dann würden sie sich bei mir melden. Dass der Standpunkt in der Karte falsch eingetragen war, hatten sie durch ihre Bemühungen schon erfahren.
Noch bevor ich Waltraud für unsere gemeinsame Urlaubszeit vom Flug-hafen abholen konnte, klärte man mich übers Telefon auf, wo ich im Ufer-gelände am Storelvvatn nach der Game suchen müsste. Als ich Waltraud diesmal vom Flughafen abholte, erzählte ich ihr davon. Natürlich wollte sie mit mir zusammen da rauf, zumal ich felsenfest überzeugt war, dass die Strecke, die ich beim Abstieg gegangen war, auch nach oben recht leicht zu begehen ist.
Jetzt waren wir auf dem Weg. Es war sehr heiß und es ging immer nur durch Bachläufe, sumpfige Stellen und Steinfelder bergauf. Die Sumpfflächen waren aber auch plötzlich sehr viel größer, als ich sie in Erinnerung hatte, und bergauf bremsten sie jeden Schritt ganz gewaltig ab.
Waltraud war ziemlich erschöpft und konnte nicht begreifen, wie ich einen solchen Weg als leicht zu begehen bezeichnen konnte. Vielleicht wäre es nicht so schwer gewesen, wenn ich vorher nicht gesagt hätte, es sei ein leichter Weg! Es passiert doch sonst nur sehr selten, dass Waltraud mir nicht davon läuft, egal in welchem Gelände.
Nach über fünf Stunden erreichten wir den Wasserfall, der aus dem See abstürzte. Danach forderte das letzte Stück Steigung, bis zum Auslauf des Sees, dann auch unsere ganze Kraft. Jetzt fehlte es nur noch, dass wir die Game wieder nicht finden würden. Wir waren aber zu einer anderen Uhrzeit am See, als ich es bei meinem ersten Besuch war. Und so kam mir wieder einmal die Sonne zu Hilfe, die sich in einer kleinen Scheibe zwischen den Birken spiegelte.
Wir hatten die Game gefunden. Sie war vor vier Jahren an dieser Stelle neu aufgebaut worden. Mit ihren zwei Schlafstellen, dem Tisch mit zwei Stühlen und einem eisernen Ofen, hatten wir die richtige Luxusunterkunft für zwei Nächte gefunden. Im Gästebuch, welches auf dem Tisch lag, waren über die vier Jahre 17 einheimische Jagdgäste eingetragen. Wir aber waren aus einem fremden Land, und die ersten Fremden Gäste in dieser Game.